Nachhaltigkeit im öffentlichen Beschaffungswesen
Entwicklung und Testen von Nachhaltigkeitsindikatoren für öffentliche Ausschreibungen in der Schweiz. Die Indikatoren sollen in Einklang mit dem WTO-Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen stehen, gesellschaftlich akzeptiert und rechtlich umsetzbar sein.
Ein interdisziplinäres Forschungsteam aus Lugano und Bern analysierte die Umsetzung der Nachhaltigkeit in der bestehenden Beschaffungspraxis und entwickelte ein massgeschneidertes Set von Nachhaltigkeitsindikatoren für öffentliche Ausschreibungen im Schweizer Kontext. Die Indikatoren wurden anschliessend auf ihre rechtliche Konformität mit der Schweizer Gesetzgebung geprüft.
Hintergrund
Im öffentlichen Beschaffungswesen fehlt ein etablierter Rahmen zur Messung und Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeit. Im nationalen Recht wird die Nachhaltigkeit bei Ausschreibungen jedoch zunehmend gefördert. Die abgeschlossenen und geplanten Revisionen des öffentlichen Beschaffungsrechts sehen Vergleiche der Nachhaltigkeit bei öffentlichen Ausschreibungen vor. Die Schweiz hat dazu das WTO-Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (GPA) verabschiedet und das Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) entsprechend ausgestaltet. In Leitlinien wie der kürzlich eingeführten ISO 20400 fehlt es jedoch an klaren gemeinsamen Instrumenten zur Messung und zum Vergleich der Nachhaltigkeit. Mit unserem Forschungsprojekt möchten wir dazu beitragen, diese Lücke zu schliessen.
Ziel
Im Rahmen des interdisziplinären Projekts «Nachhaltigkeit im öffentlichen Beschaffungswesen» analysierte das Team Stürmer (Informatik, Bern) die Umsetzung von Nachhaltigkeit in bisherigen öffentlichen Ausschreibungen. Basierend auf den Ergebnissen zum Status quo identifizierte das Team Seele (Business Ethics, Lugano) anschliessend geeignete Nachhaltigkeitsindikatoren für öffentliche Beschaffungen. Berücksichtigt wurden dabei auch die unterschiedlichen Ansätze in Europa (feste Kriterien, weniger flexibel) und der Schweiz (flexibler, stärkere individuelle Verantwortung der Beschaffungsstelle). Schliesslich prüfte das Team DeRossa (Legal Studies, Lugano) die theoretisch resultierenden Indikatoren auf ihre rechtliche Konformität innerhalb der bestehenden Schweizer Gesetzgebung und auf Optimierungsmöglichkeiten.
Resultate
Bern:
Das Team Stürmer führte empirische Analysen mit Beschaffungsdaten von staatlichen Schweizer Stellen durch. Mit der Entwicklung einer sektorspezifischen Methode für die Identifizierung von Nachhaltigkeitskriterien in Beschaffungsdokumenten konnte das Team die bisher realisierte Nachhaltigkeit anhand von Datensätzen zu Schweizer Ausschreibungen messen. Der Fokus lag dabei auf den Auswahlkriterien, den technischen Spezifikationen und den Zuschlagskriterien bei Ausschreibungen in den Bereichen Informatik, Bauwesen, Strassenverkehr, Lebensmittel und Catering sowie Textilien. Die Ergebnisse zeigen, dass Nachhaltigkeitskriterien bei öffentlichen Ausschreibungen noch nicht die Regel sind, in den letzten Jahren aber häufiger vorkommen.
Lugano Ethics:
Das Team Seele identifizierte bestehende Nachhaltigkeitsindikatoren aus verschiedenen Branchen und deren Relevanz für ein nachhaltiges öffentliches Beschaffungswesen. Es wurden auch Fallbeispiele aus der Big-Data-Analyse des Teams Stürmer einbezogen. Daraus entstanden unter anderem Publikationen mit Peer-Review über eine typologische Analyse von Nachhaltigkeitsindikatoren im Allgemeinen (Knebel und Seele 2020) und speziell für die Schweiz (Knebel und Seele 2021).
Lugano Legal:
Die vom Team Seele identifizierten Nachhaltigkeitsindikatoren bieten ein wichtiges Instrument zur Verbesserung der Nachhaltigkeit in der Beschaffungspraxis, da die von ihnen vorgeschlagenen neuen Kriterien bereits in der Berichterstattung von privaten Unternehmen geprüft wurden und dort gut bekannt sind. Im rechtlichen Teil der Forschungsarbeit wurde aufgezeigt, welchen Handlungsspielraum staatliche Beschaffungsstellen beim Einbezug dieser Indikatoren in die vom Gesetz erlaubten Nachhaltigkeitskriterien haben und wo sich wesentliche Probleme ergeben könnten.
Bedeutung für die Forschung
Bern:
Durch die Definition sektorspezifischer Indikatoren für die Messung der Nachhaltigkeit bei Beschaffungskriterien wurde ein Beitrag zur Methodik geleistet. Die gesammelten Ausschreibungsdaten bieten ausserdem Möglichkeiten für weitere Forschungsarbeiten im Bereich der nachhaltigen öffentlichen Beschaffung.
Lugano Ethics:
Bei diesem Projekt wurde Nachhaltigkeit in der öffentlichen Beschaffung erstmals als Kommunikationsprozess in die akademische Disziplin des Kommunikationsmanagements eingeführt (Knebel und Seele 2020). Darüber hinaus ist der spezifische Ansatz, die Rolle der einzelnen Beschaffungsstelle im administrativen Prozess über das Ankreuzen von Kästchen hinaus zu würdigen, im schweizerischen Kontext neu und erweitert das Wissen über nachhaltige Beschaffung (Knebel und Seele 2021).
Lugano Legal:
Aus rechtlicher Sicht sollten für nachhaltigere Beschaffungen zwei noch offene dogmatische Fragen erforscht werden: erstens, inwieweit die Nachhaltigkeitskriterien auf den Auftragsgegenstand abzustimmen sind, und zweitens, ob im Gesetz zwingende Nachhaltigkeitskriterien formuliert werden sollten.
Bedeutung für die Praxis
Bern:
Die gesammelten Beschaffungsdaten und Ausschreibungsunterlagen werden über die separat finanzierte Online-Plattform IntelliProcure öffentlich zugänglich gemacht. Damit können Fachleute aus der Praxis nach Beschaffungsinformationen suchen und diese wiederverwenden.
Lugano Ethics:
Das Set mit zehn thematischen Indikatoren-Clustern gibt Beschaffungsstellen zusätzliche Anhaltspunkte dazu, wie sie flexibel auf kontext- und branchenspezifische Nachhaltigkeitsanforderungen reagieren können, da es keine Patentlösung gibt.
Die thematischen Indikatoren-Cluster sind: Menschenrechte, Lieferkettenkontrolle, ökologische und soziale Risiken, geschlechtsspezifisches Lohngefälle, Zertifizierung des Nachhaltigkeitsmanagements, Korruptionsbekämpfung, Treibhausgasemissionen, Energieverbrauch, Investitionen in Nachhaltigkeit und Beschreibung der Stakeholder.
Lugano Legal:
Das Ergebnis der juristischen Analyse sind rechtliche Leitlinien für öffentliche Vergabestellen und den Gesetzgeber. Damit können diese Akteure den Paradigmenwechsel hin zu Nachhaltigkeit im öffentlichen Beschaffungswesen vorantreiben.
Publikationen
Projektleitung
Prof. Dr. Dr. Peter Seele
Ethics and Communication Law Center, Università della Svizzera Italiana
Prof. Dr. Matthias Stürmer
Institut Public Sector Transformation, Berner Fachhochschule
Prof. Dr. Federica De Rossa Gisimundo
Istituto di diritto, Università della Svizzera Italiana
Projektpartner
Prof. Dr. Irina Lock
Amsterdam School of Communication Research, University of Amsterdam