"Ich bin ein Wissenschaftsromantiker, der glaubt, dass Wissenschaft zur Lösung von Problemen beitragen kann."
07.11.2016
Die Initiative zur grünen Wirtschaft wurde im September 2016 wuchtig verworfen. Waren Sie von diesem Resultat enttäuscht?
Gunter Stephan: Nein, ich hatte das so erwartet. Es ist schwierig zu vermitteln, dass man den Wohlstand steigern und trotzdem die Ressourcen schonen kann. Viele hatten das Gefühl, dass Umweltschutz mit einem Verlust an Wohlstand einhergehe.
Das heisst also, dass die verlorene Abstimmung primär ein Kommunikationsproblem war?
Auch. Zudem lagen zu wenig Fakten auf dem Tisch: Man weiss einfach zu wenig, was Green Economy wirklich bedeutet – sowohl für die Wirtschaft als auch für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger.
Genau diese Wissenslücke will das NFP 73 schliessen. Vorab aber die Frage: Wie definieren Sie denn "nachhaltige Wirtschaft"?
Unter Nachhaltigkeit verstehen viele Menschen unterschiedliche Dinge – etwa die Gerechtigkeit zwischen den Generationen oder die Reduktion des Ressourcenverbrauchs.
Ich verstehe darunter, dass wir einerseits innerhalb der Grenzen der Natur wirtschaften und diese Grenzen nicht ständig überschreiten – wie es beim Klimawandel oder der Überfischung der Weltmeere ganz offensichtlich der Fall ist – und andererseits einen permanenten Wohlstand sichern können.
Dieser Wohlstand bedingt Wettbewerbsfähigkeit. Gibt es keine Interessenskonflikte zwischen wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit und Ressourcenschonung?
Ich denke nicht. Wettbewerbsfähigkeit hat sehr viel damit zu tun, dass die Produktivität der Volkswirtschaft hoch ist. Die Produktivität wiederum ist stark von der Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft abhängig, also davon, neue Produkte und Verfahren zu schaffen, die komparative Vorteile im Vergleich zum Ausland bieten. Ressourcensparende Produktionsverfahren sind immer effizienter und steigern damit die Wettbewerbsfähigkeit.
Eine "grüne Wirtschaft" versucht Innovationen auszulösen, die ressourcenschonend sind – indem beispielsweise Produktionen und Verfahren entwickelt werden, die eine Kreislaufwirtschaft ermöglichen.
Nachhaltige Wirtschaft soll auch die soziale Wohlfahrt sichern. Was bedeutet "soziale Wohlfahrt" im ökonomischen Kontext?
Eine wettbewerbsfähige Volkswirtschaft muss sich auf den internationalen Märkten und bei den internationalen Preisen durchsetzen. Das sollte aber nicht zulasten der Arbeitnehmer gehen.
Aus Sicht der Konsumenten ist aber oft der Preis das ausschlaggebende Kriterium – auch wenn darunter beispielsweise die Textilarbeiter in Bangladesh leiden.
Das ist der springende Punkt: Wir müssen dafür sorgen, dass die Preise Gerechtigkeit widerspiegeln. Ich glaube, inzwischen weiss jeder, dass es nichts umsonst gibt. Gute Dinge haben ihren Preis. Das bedeutet auch, dass wir teilweise auf Komfort verzichten müssen. Aber wir zahlen heute für unseren hohen Lebensstandard schon einen sehr hohen Preis: Wir sind extrem abhängig vom Import von Ressourcen. Im Augenblick schwimmen wir auf einer Welle billigen Öls. Deshalb können wir uns auch einen hohen Energieverbrauch leisten. Was passiert aber, wenn die OPEC tatsächlich als Kartell funktioniert? Die Preise werden international stark ansteigen, viel Kapital wird aus der Schweiz abfliessen. Dieses Kapital fehlt uns für notwendige Investitionen im eigenen Land. Langfristig behindern wir also unser Wirtschaftswachstum, indem wir ständig für teures Geld Ressourcen aus dem Ausland einkaufen. Es wäre sehr viel effizienter, sparsam mit Ressourcen umzugehen und soweit es geht auf erneuerbare Ressourcen im eigenen Land zu setzen.
Ist Wirtschaftswachstum überhaupt noch ein erstrebenswertes Ziel?
Das kommt darauf an, wie das Wachstum gemessen wird. Wenn es am Bruttosozialprodukt gemessen wird, also an der Gesamtheit aller produzierten Güter und Dienstleistungen, muss man es tatsächlich in Frage stellen. Wenn allerdings die Lebensqualität als Massstab genommen wird, ist auch bei nicht materiellen Gütern wie Krankenversorgung, Bildung und Kultur Wachstum möglich. Diese "Entmaterialisierung" der Wirtschaft steckt hinter dem Konzept der "Green Economy". Wir durchlaufen gerade eine erste Phase dieser Entmaterialisierung. Dieser Trend wird sich künftig fortsetzen. Wirtschaftswachstum bedeutet dann nicht ein Mehr an Gütern, sondern ein Mehr an Lebensqualität.
Was bedeutet "ressourcenschonend" konkret?
Ein gegebenes Produktionsziel mit möglichst geringem Einsatz an Ressourcen zu erreichen. Ein Beispiel ist das Transportwesen: Man kann effiziente Fahrzeuge einsetzen oder die Logistik so aufbauen, dass Leerfahrten vermieden werden.
Und wann ist eine Wirtschaft "zukunftsfähig"?
Darunter verstehe ich, dass wir eine gewisse Lebensqualität und Wohlfahrt für die Bevölkerung aufrechterhalten können, in einer Welt, in der die Ressourcen immer knapper werden. Auch in Ländern, die sehr verschwenderisch mit Energie umgegangen sind, beginnen diese Überlegungen eine Rolle zu spielen. Wer hätte denn je geglaubt, dass China und die USA ein Klimaabkommen unterzeichnen? Wenn man zukunftsfähig sein will, muss man die Massnahmen zur Sicherstellung von Lebensqualität und Wohlstand bei gleichzeitiger Schonung der Ressourcen erst entwickeln und etablieren, auch durch die Bereitstellung entsprechender Infrastrukturen - etwa im Wohnungs-, Nahrungsmittel- oder Verkehrssektor.
Das NFP 73 hat noch kaum begonnen und steht schon in der Kritik. Ein Vorwurf lautet, dass sich die Wissenschaft durch die Politik instrumentalisieren, respektive vor den Karren des Bundesrats spannen lässt, der den Aktionsplan grüne Wirtschaft umsetzen will. Was sagen Sie dazu?
Diese Kritik habe ich schon öfter gehört. Das NFP 73 hat den Auftrag, mit unabhängiger Forschung bisher nicht vorhandenes Wissen bereitzustellen. Es geht also nicht darum, einen politischen Vorschlag mit wissenschaftlichen Argumenten zu legitimieren. Wir wollen aufzeigen, wie die Volkswirtschaft umgebaut werden könnte, damit sie ressourcenschonend ist und den Wohlstand nachhaltig sichert. Wir wollen erforschen, welche Massnahmen man ergreifen kann, welche Instrumente eingesetzt und welche Verfahren entwickelt werden könnten. Es geht also darum, Orientierungs- und Handlungswissen bereitzustellen.
Kritiker monieren aber, das Programm sei per se schon ideologisch gefärbt.
Auch diese Kritik kenne ich. Um rationale Entscheide fällen und tragfähige Lösungen entwickeln zu können, müssen wir wissen, vor welchen Problemen wir stehen. Und da ist die Schweiz ja nicht isoliert: Die Schweiz ist im Grunde genommen ein Grosshandels- und Veredelungshaus. Wir importieren Waren und Ressourcen und veredeln sie zu hochwertigen Produkten. Demzufolge muss die Schweiz auf den internationalen Märkten bestehen können. Ein Blick auf die internationale Ebene zeigt, dass weltweit ähnliche Programme aufgelegt werden. Wenn sich aber weltweit die Green Economy durchsetzt, werden die Produkte aus der Schweiz sehr kritisch beäugt werden. Die Produktionsverfahren haben also Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit.
Sie sind Leitungsgruppenpräsident des NFP 73. Was hat Sie dazu motiviert, diesen Job zu übernehmen und sich der Kritik auszusetzen?
Ich bin davon überzeugt, dass wir ein Wissensdefizit haben, und dass die Wissenschaft dieses Wissensdefizit beseitigen kann. Ich bin immer noch eine Art Wissenschaftsromantiker, der glaubt, dass Wissenschaft zur Lösung von Problemen beitragen kann. So gesehen ist das NFP 73 eine Investition in die Zukunftsfähigkeit der Schweiz.
Ende September 2016 war Einreichungsfrist für Projektskizzen zum NFP 73. Wie sieht die Ausbeute aus?
Es wurden fast 100 Projektvorschläge eingereicht, sie decken relativ gut die verschiedenen Forschungsthemen ab. Eine Reihe von Projekten sind in Kooperation mit Unternehmen oder mit der Wirtschaft organisiert. Es wird also nicht nur theoretisches Wissen erzeugt, sondern tatsächlich Handlungswissen, wo man sieht, wie man etwas umsetzen kann. Ich bin daher mit dem Skizzeneingang sehr zufrieden. Jetzt werden wir 40 bis 50 Projekte aussuchen, die in die nähere Begutachtung eingehen.
Autorin: Astrid Tomczak-Plekawa